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Verbannung und Staatsbürgerschaft

Gerhard König ⌂, Donnerstag, 04.09.2003, 04:02 (vor 7805 Tagen) @ B. Meyer

Als Antwort auf: einwanderung nach deutschland aus wolhynien von B. Meyer am 03. September 2003 17:58:27:


Hallo Bettina,

da stecken sehr viele Fragen drin, die ich bestimmt auch nicht alle beantworten kann. Aber ich starte mal einen kleinen Versuch ...

.. Verbannung. Mein Großvater muss um diese Zeit nach Deutschland
gekommen sein. Er war zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt, und ich frage mich,
ging denn das so einfach ..

Nein, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ging dies nicht so einfach. Aus meiner Familie ist mir bekannt, daß die Familien beim Herannahen der Front (WW1) in die Pripjet-Sümpfe flohen, um sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen. Dort versteckten sie sich monatelang. In der Nacht sind einige Erwachsene von ihnen in ihren Heimatort geschlichen, um nach den Grundstücken und dem Vieh zu schauen und Lebensmittel zu holen. Sie berichteten Woche für Woche von immer mehr Zerstörungen und Verwüstungen, so wurde es fast aussichtslos in ihren Ort zurückzukehren. Den Frontverlauf ausnutzend gaben sie ihr Versteck auf und zogen nach Ostpreussen. (Beispiel aus dem Ort Wincentow bei Beresk)

.. nach Deutschland einwandern, .. warum haben das nicht mehrere getan,
statt sich in die Verbannung schicken zu lassen?

Der Befehl und die Ausführung erfolgte innerhalb weniger Stunden bzw. Tage. Den Einwohnern blieb kaum Zeit zum Packen der nötigsten Kleidungsstücke. Wer zu Hause angetroffen wurde, ging den Weg in die Verbannung. Erlebnisberichte hierzu gibt es einige. Es soll auch wenige Ausnahmen gegeben haben. Wenn ein Familienmitglied bei der russischen Armee diente, galten sie als "loyal" und konnten auf ihren Höfen bleiben.

.. dass er illegal nach Deutschland gekommen ist und sich auch illegal
hier aufhielt?

Über den Begriff "illegal" während eines tobenden Krieges kann man gern streiten. Von offiziellen - vom deutschen Staat angeordneten - Auswanderungen der deutschen Siedler in Richtung des deutschen Territoriums während des 1. Weltkrieges habe ich bisher noch nichts lesen können.

.. die deutsche Staatsbürgerschaft hatte er nicht, seine Kinder galten deshalb
als staatenlos bis sie schließlich eingebürgert wurden. ...

Die deutsche Staatsbürgerschaft hatten nur noch die wenigsten deutschen Siedler in Wolhynien. Sie behielten ihre Sprache und Traditionen, aber waren teilweise bereits seit zwei oder drei Generationen russische Staatsbürger. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde z.B. verstärkt (nachzulesen im "Wolhynischen Boten", 1927-1935, Wochenblatt der evangelischen Pastoren in Westwolhynien) dazu aufgerufen, die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen, um die gleichen Rechte wie alle anderen Einwohner zu haben.

Dies ist nur ein kleiner erster Versuch von mir, auf Deine Fragestellung zu antworten. Die Themen "Vertreibung" und "Welche Staatsbürgerschaft" sind weitaus umfangreicher. Vielleicht kann einer der vielen älteren Mitleser Dir hier Näheres erzählen?

Gerhard


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