Re: Nowa Semlja

Reinhard Schwarz @, Freitag, 07.01.2005, 11:30 (vor 7313 Tagen) @ Irene Kopetzke

Zum Thema Wolhynien

Im Jahre 2003 erschien ein Buch über Wolhynien unter dem Titel "Wolhynien geliebt, verlassen, doch nie vergessen". Hierin erzählt die Autorin, Ingrid Böttger, von dem schweren Schicksal ihrer Großeltern und deren Verwandten, dies auch stellvertretend für viele Wolhyniendeutsche, denn die Schicksale glichen sich sehr.

Dieses Buch hat einen "Wolhynien-Virus" ausgelöst, so äußerten sich Leser, ehemalige Wolhyniendeutsche, bzw. deren Nachkommen. Die schon fast vergessene Vergangenheit wurde plötzlich wieder allgegenwärtig. Menschen die sich über sechs Jahrzehnte nicht mehr gesehen und nichts von sich gehört hatten, fanden wieder zusammen. Spontan wurden Familientreffen organisiert und Menschen, die ihre Kindheit zusammen verbracht hatten, lagen sich nach so vielen Jahren wieder in den Armen. Ein ganzes Leben war vorbei gegangen und hat seine Spuren an den Menschen hinterlassen und doch war sich niemand fremd. Dies waren wunderbare Momente im Leben der Menschen, die einer der Glücklichen mit dem Satz krönte: "Unser Treffen war eine Demonstration der Herzen!"

Allein durch das Erscheinen dieses Buches kam Großes in Gang. Durch Mund zu Mund Propaganda fand das Buch, welches Geschichtliches, Allgemeines und Familiäres wiedergibt und sehr emotional geschrieben ist, Leser in ganz Deutschland, sogar in Australien, Kanada, USA und der Ukraine. Das Buch umfasst übrigens 228 Seiten und kostet 20,00 €. Im Handel ist es allerdings nicht erhältlich, sondern nur über Direktbestellung bei der Autorin. Die e-mail – Adresse lautet Walter-boettger@t-online.de oder Tel. 03537/215084.

Ohne dieses Buch wäre selbst die wunderbare Fahrt in die einstige Heimat unserer Vorfahren, nach Wolhynien, nicht zustande gekommen. Lassen Sie mich noch mit einigen Worten hierüber berichten. Ein ganzer Bus voller Verwandten machte sich im August 2004 auf nach Wolhynien. Genauer gesagt nach Luzk, Luck, (Lutsk). Ca. 1.200 km lagen vor uns. Der mit 43 Personen besetzte moderne Bus, gesteuert von zwei ausgezeichneten Busfahrern, erreichte sein Ziel nach etwas 22 Stunden. Im Hotel "Ukraina", dem schönsten Hotel der 300.000 Einwohner Metropole Lutsk, fanden wir eine ganz ausgezeichnete Unterkunft (sehr empfehlenswert!). Das Essen war zu unserer Überraschung so gut, das der Eine oder Andere mit mehr Gewicht nach Hause fuhr, als er ankam. Das Personal war sehr nett und die Zimmer schön eingerichtet. Alles in Allem steht das Hotel westlichem Standard nicht nach.

Am Tag nach unserer Ankunft fuhren wir dorthin, wo früher die Kolonie Nowa Ziemnia, Nowa Ziemia, Nowa Semia die Heimat unserer aller Vorfahren war. Wir fuhren ca. 35 km Richtung Osten. Das dieser Ort nicht mehr existiert, wussten wir wohl und doch wollten wir unsere Füße auf den einst heimatlichen Boden setzen. Im letzten Dorf vor unserem eigentlichen Ziel machten wir Halt. Kottow, Kotow so hieß das kleine verschlafene Dorf. Da wir um die Armut der Menschen wussten, hatten wir Sachen, Spielzeug, usw. im Gepäck. All das wollten wir in Kottow, Kotow verteilen. Die Armut die uns hier entgegen schlug ist kaum zu beschreiben. Aber auch die Dankbarkeit und Gastfreundlichkeit die wir erlebten macht es schwer, die passenden Worte zu finden. "Geben ist seliger denn Nehmen", wie oft schon hat man diesen Satz gehört, doch hier wurde er mit Leben erfüllt und wir spürten, wie glücklich es doch machen kann, von Herzen zu geben. Freudentränen auf beiden Seiten zeugten von Glück und Dankbarkeit. Ein Großmütterchen küsste unter Tränen die Hände einer unserer Mitreisenden. Die Kinder waren ebenso glücklich und dankbar für alles was in ihre Hände legten. Momente die sich im Herzen eingraben ...

Schließlich kamen wir dann aber noch mit Hilfe der dankbaren Dorfbewohner ins ehemalige Nowa Ziemnia, Nowa Ziemia, Nowa Semia. Dort wo vor über 60 Jahren viele Familien wohnten. Sie trugen u.a. die Namen Schwarz, Schubert, Weidner, Wagner, Herrmann, Beck, Rein, Schindler. Was waren das für Momente und Eindrücke, als jene, die damals Kinder waren, jetzt wieder dort waren, wo sie ihre Kindheit verbrachten. Wie viele Erinnerungen wurden plötzlich wach und nicht wenige Tränen erzählten von der Wehmut, von der Trauer um die Geschwister und Eltern. Fast jeder hatte liebe Menschen zu beklagen, die hier unter dieser Erde, so fern der jetzigen Heimat ihre letzte Ruhe fanden. Wie viele Gedanken galten ihnen nun in diesen Augenblicken. Obgleich nichts mehr vorzufinden war, als eine blühende und schöne Landschaft, so sahen wir doch vor unserem geistigen Auge das ganze Dorf vor uns, im Mittelpunkt die Schule bzw. das Bethaus. So manch einer spürte eine ganz intensive Nähe zu seinen Vorfahren.
Nach längerer Zeit des Aufenthaltes ging es wieder zurück nach Kottow, mit dem LKW, einem Traktor und zwei Panje-Wagen, welche die Dorfbewohner für uns organisiert hatten, da es zu Fuß zu weit und für unseren Bus zu unwegsam war. Wir waren den Menschen dort sehr dankbar für ihre Hilfe.

Am Ende wartete für uns 43 Personen ein so wunderbar gedeckter Tisch, dass es uns die Sprache verschlug. Wir verbrachten unvergessliche Stunden und so entstanden nette Freundschaften. Der Abschied fiel allen schwer, aber wir versprachen im nächsten Jahr wiederzukommen. An den folgenden Tagen besichtigten wir u.a. noch die Stadt Lutsk, die uns gleichwohl gefiel und beeindruckte. Auch zur Bahnstation Olika fuhren wir, denn von dort wurden unsere Vorfahren 1915 nach Sibirien geschickt, besser wohl verbannt. In Olika kamen sie nach drei Jahren auch wieder an. 1939 mussten sie die Heimat wieder verlassen und fuhren in Olika ab. Eine Wiederkehr gab es für die Menschen nicht mehr.

Interessant war es auch, die frühere lutherische Kirche zu besichtigen (jetzt eine Kirche der Baptisten). Dort wurden viele unserer Vorfahren getraut oder getauft. Schließlich verließen wir Lutsk nach einigen Tagen Aufenthalt und landeten wieder daheim, gesund und voller wunderbarer Eindrücke. Dabei planten wir schon die nächste Fahrt.
Wie viele hilfsbereite Menschen haben schon Sachen abgeben, denn sie lasen in der Presse von unserer erlebnisreichen Fahrt und dem Plan, wieder nach Lutsk zu fahren und so viel als möglich an Sachen mitzunehmen und allem, was noch so gebraucht wird.

Zum Schluss möchte ich noch kurz von unserem Pfingsttreffen berichten. Seit 14 Jahren, also seit der Wende, treffen sich viele unserer Verwandten in der Nähe von Bad Liebenwerda. Aus vielen Ecken Deutschlands kommen sie zum Treffen, sogar aus dem Bergischen Land. Ganz idyllisch gelegen ist das Plätzchen, dass wir uns hierfür ausgesucht haben. Eine Insel inmitten von kleinen Teichen. Froschkonzerte wiegen uns in den Schlaf und wecken uns. Wir leben während der Zeit in wunderbarer Gemeinschaft und im Einklang mit der Natur, so wie es auch unsere Vorfahren taten. In Zelten oder Wohnwagen finden wir für diese Zeit Unterkunft. Es wird gemeinsam gekocht, gegessen, gespielt. Eine Zeit im Jahr, auf die wir uns immer sehr freuen und die den Zusammenhalt fördert und festigt. Eine schöne Sache.

So viel für heute. Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen

Ihr Reinhard Schwarz


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