einwanderung nach deutschland aus wolhynien
B. Meyer, Mittwoch, 03.09.2003, 17:58 (vor 8137 Tagen)
Hallo liebes Forum,
lese gerade im Wolhynischen Heft über die Verbannung. Mein Großvater muss um diese Zeit nach Deutschland gekommen sein. Er war zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt, und ich frage mich, ging denn das so einfach, konnten denn die Wolhyniendeutschen einfach wieder nach Deutschland einwandern, und wenn ja, warum haben das nicht mehrere getan, statt sich in die Verbannung schicken zu lassen? Oder liegt der Schluss nahe, dass er illegal nach Deutschland gekommen ist und sich auch illegal hier aufhielt? Aber dann hätte er ja hier nicht heiraten können, die deutsche Staatsbürgerschaft hatte er nicht, seine Kinder galten deshalb als staatenlos bis sie schließlich eingebürgert wurden. Wenn er der russischen Armee entkommen wollte, weshalb ist er denn hier in Deutschland nicht eingezogen worden? Fragen über Fragen, wenn jemand was weiß und antworten mag, würde ich mich sehr freuen.
Grüße, B. Meyer
Verbannung und Staatsbürgerschaft
Gerhard König
, Donnerstag, 04.09.2003, 04:02 (vor 8137 Tagen) @ B. Meyer
Als Antwort auf: einwanderung nach deutschland aus wolhynien von B. Meyer am 03. September 2003 17:58:27:
Hallo Bettina,
da stecken sehr viele Fragen drin, die ich bestimmt auch nicht alle beantworten kann. Aber ich starte mal einen kleinen Versuch ...
.. Verbannung. Mein Großvater muss um diese Zeit nach Deutschland
gekommen sein. Er war zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt, und ich frage mich,
ging denn das so einfach ..
Nein, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ging dies nicht so einfach. Aus meiner Familie ist mir bekannt, daß die Familien beim Herannahen der Front (WW1) in die Pripjet-Sümpfe flohen, um sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen. Dort versteckten sie sich monatelang. In der Nacht sind einige Erwachsene von ihnen in ihren Heimatort geschlichen, um nach den Grundstücken und dem Vieh zu schauen und Lebensmittel zu holen. Sie berichteten Woche für Woche von immer mehr Zerstörungen und Verwüstungen, so wurde es fast aussichtslos in ihren Ort zurückzukehren. Den Frontverlauf ausnutzend gaben sie ihr Versteck auf und zogen nach Ostpreussen. (Beispiel aus dem Ort Wincentow bei Beresk)
.. nach Deutschland einwandern, .. warum haben das nicht mehrere getan,
statt sich in die Verbannung schicken zu lassen?
Der Befehl und die Ausführung erfolgte innerhalb weniger Stunden bzw. Tage. Den Einwohnern blieb kaum Zeit zum Packen der nötigsten Kleidungsstücke. Wer zu Hause angetroffen wurde, ging den Weg in die Verbannung. Erlebnisberichte hierzu gibt es einige. Es soll auch wenige Ausnahmen gegeben haben. Wenn ein Familienmitglied bei der russischen Armee diente, galten sie als "loyal" und konnten auf ihren Höfen bleiben.
.. dass er illegal nach Deutschland gekommen ist und sich auch illegal
hier aufhielt?
Über den Begriff "illegal" während eines tobenden Krieges kann man gern streiten. Von offiziellen - vom deutschen Staat angeordneten - Auswanderungen der deutschen Siedler in Richtung des deutschen Territoriums während des 1. Weltkrieges habe ich bisher noch nichts lesen können.
.. die deutsche Staatsbürgerschaft hatte er nicht, seine Kinder galten deshalb
als staatenlos bis sie schließlich eingebürgert wurden. ...
Die deutsche Staatsbürgerschaft hatten nur noch die wenigsten deutschen Siedler in Wolhynien. Sie behielten ihre Sprache und Traditionen, aber waren teilweise bereits seit zwei oder drei Generationen russische Staatsbürger. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde z.B. verstärkt (nachzulesen im "Wolhynischen Boten", 1927-1935, Wochenblatt der evangelischen Pastoren in Westwolhynien) dazu aufgerufen, die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen, um die gleichen Rechte wie alle anderen Einwohner zu haben.
Dies ist nur ein kleiner erster Versuch von mir, auf Deine Fragestellung zu antworten. Die Themen "Vertreibung" und "Welche Staatsbürgerschaft" sind weitaus umfangreicher. Vielleicht kann einer der vielen älteren Mitleser Dir hier Näheres erzählen?
Gerhard
Re: Verbannung und Staatsbürgerschaft
B. Meyer, Donnerstag, 04.09.2003, 20:06 (vor 8136 Tagen) @ Gerhard König
Lieber Gerhard, danke für deine Anregungen. Ja , das leuchtet mir ein, dass man vielleicht das Geld für die Einbürgerung nicht hatte. Und das die Menschen in die Verbannung binnen Stunden aufbrechen mußten. Mein Großvater war auch bereits kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs nach Deutschland gekommen. Ich bekam gestern auch Nachricht vom Bundesarchiv in Berlin, sie konnten dort keine Unterlagen bzgl. einer Einwanderung meiner Urgroßeltern ab 1939 finden. Das macht mich recht mutlos, nun weiß ich nicht welche Spur ich weiterverfolgen soll.
Grüße, B. Meyer
Re: Verbannung
Irene Kopetzke, Freitag, 05.09.2003, 00:09 (vor 8136 Tagen) @ Gerhard König
Als Antwort auf: Verbannung und Staatsbürgerschaft von Gerhard König am 04. September 2003 04:02:39:
Wenn ein Familienmitglied bei der russischen Armee diente,
galten sie als "loyal" und konnten auf ihren Höfen bleiben.
So schien es zunächst. In der Bekanntmachung vom Juni 1915 hieß es z.B.:
"Alle Deutschen, Kolonisten, Nichtorthodoxen des Kreises Nowograd Wolynsk, die nicht in geschlossenen Ortschaften leben, unterliegen der Aussiedlung. Sie haben bis zum 10.Juli des Jahres Zeit, ihren Landbesitz aufzulösen. An ihren Wohnorten können verbleiben: Frauen der Kolonisten, die sich in unserem aktiven Herr befinden, ihre Kinder, Mütter und Familienoberhäupter. ..."
Viele dieser Familien wurden dann aber später auch ausgesiedelt, obwohl ihre Männer oder Söhne in der Armee dienten. Eine Schwester meines Opas durfte mit ihrer Familie bis zum Winter bleiben (Januar 1916?), dann wurden auch sie ausgesiedelt. Sie schreibt in ihren Lebenserinnerungen:
"O Gott!, was hat man da alles durchgemacht. Die Schlitten wurden verlängert zwei zusammen, lange Leitern rauf und dann etwas Stroh, dann die Betten. Danach trugen wir die kranke Mutter auf den Schlitten und deckten sie mit dem Bettzeug zu, auf den anderen Schlitten wurden auch etwas Heu und Decken raufgelegt, dort mußten wir alle rauf, wir waren noch 9 Seelen. ... Dann fuhren wir los mit 2 vollen Schlitten bis Korestin, so etwa 40 km, da war ein großes Haus, es war schon voll mit Menschen. Unsere Mutter wurde in ein kleines Zimmer gebracht, 3m lang und 2m breit, und wir legten unsere Sachen an die Seite und setzten uns darauf, wir schliefen auch drauf. Dort waren etwa 3000 Menschen und wir blieben 3 Tage da. Die Pferde und Schlitten wurden ja fortgenommen."
Doppelte Staatsbürgerschaft
Irene Kopetzke, Freitag, 05.09.2003, 01:03 (vor 8136 Tagen) @ Gerhard König
Vielleicht kann einer der vielen älteren Mitleser Dir hier Näheres erzählen?
Wenn ich zugebe, daß ich etwas älter bin als Gerhard, darf ich dann auch etwas zu dem Thema schreiben?
Ich bin nicht ganz davon überzeugt, daß nur "noch die wenigsten deutschen Siedler" die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen. Es müssen doch ein paar mehr gewesen sein. Meine Mutter nannte das "Deutsch Untertan" und sie kannte einige Leute aus ihrem Dorf, die die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen.
Seit dem 1. Juni 1870 ließ das deutsche Reichsgesetz die doppelte Staatsbürgerschaft zu. Das russische Recht untersagte im Gegensatz dazu eine zweite, fremde Staatsbürgerschaft. Die doppelte Staatsbürgerschaft wurde den Deutschen oft negativ ausgelegt, wie sich denken läßt. So sprach man sich 1916 in einer Dumadebatte über die Enteignungspolitik dahingehend aus, daß "lediglich die deutschen Kolonisten, die vor der Reichsgründung die russische Untertanenschaft erworben hatten, von dem Verdacht freigesprochen werden, planmäßig und zielstrebig für die Herstellung einer deutschen Oberschicht in den russischen Grenzgebieten gearbeitet zu haben". [Quelle: Fleischhauer]
Als Antwort auf: einwanderung nach deutschland aus wolhynien von B. Meyer am 03. September 2003 17:58:27:
.. weshalb ist er denn hier in Deutschland nicht eingezogen worden?
Du schreibst selbst, daß er und seine Familie keine deutsche Staatsbürgerschaft hatten. Sie galten als "Russen" in ihrem neuen Aufenthaltsort, man war ihnen gegenüber mißtrauisch. Die Einbürgerung war damals genauso schwer, wie es den vielen Russlanddeutschen heute teilweise noch geht. Die Beurkundung der Einbürgerung und Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft kostete damals viel Geld. Mein Urgroßvater mußte für seine Familie in Ostpreussen 20 Goldmark bezahlen, damit sie sich "deutsche Staatsbürger" nennen durften. Seine Kinder brauchten dann in den Jahren später oft eine notariell beglaubigte Kopie dieser Einbügerungsurkunde - wie Du selbst schreibst - für Hochzeiten, Geburts-, Taufurkunden der Enkel und wenn jemand zum Militär wollte.
Re: einwanderung nach deutschland aus wolhynien
Irene Kopetzke, Donnerstag, 04.09.2003, 23:27 (vor 8136 Tagen) @ B. Meyer
Als Antwort auf: einwanderung nach deutschland aus wolhynien von B. Meyer am 03. September 2003 17:58:27:
Hallo B.
ich nehme an, daß Du die Zwangsaussiedlung im 1.Weltkrieg meinst, wenn Du "über die Verbannung" schreibst. Es ist immer hilfreich, konkrete Jahresangaben oder wenigstens einen Zeitraum zu nennen, dann weiß man gleich, worum es geht.
Ich möchte Gerhards Kommentar noch etwas hinzufügen, was ein etwas anderes Licht auf die Möglichkeiten der Umsiedlung nach Deutschland während des 1.Weltkriegs wirft. Bei Fleischhauer kannst Du nachlesen, daß es sogar eine organisierte Form der "Rücksiedlung" gegeben hat.
Der Feind war Deutscher oder Österreicher, sprach ihre Sprache und hatte nicht selten dieselbe Nationalität. Dies scheint dazu geführt zu haben, daß in den russischen Westprovinzen mit Ausbruch des Krieges eine leichte Abwanderungsbewegung nach Deutschland einsetzte. Nach Angaben, die während des Kriegs von deutscher Seite gemacht wurden, sind in den ersten Kriegsjahren etwa 30.000 Deutsche aus Russisch-Polen und Wolhynien nach Deutschland abgewandert. Diese Bewegung ist wohl zum überwiegenden Teil von den Gebieten ausgegangen, die bereits von den deutschen Truppen besetzt waren. Nicht auszuschließen ist auch, daß Werber im alldeutschen Interesse unter den Kolonisten der besetzten russischen Gebiete Ausschau hielten, um sie nach Deutschland zu verpflanzen. So wurde beispielsweise vom Vorstand des "Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer" in Berlin, Borchert, darauf hingewiesen, daß es ihm schon im Laufe der beiden ersten Kriegsjahre "gelungen" sei, neben unzähligen Einzelpersonen auch 4800 Familien aus Wolhynien "dem Vaterlande zurückzugeben". Und größere Aufgaben ständen dem Fürsorgeverein noch in der Heimführung der deutschen Siedler aus den süd- und südostrussischen Gebieten bevor.
Aber auch vor der Besetzung der russischen Westgebiete durch die deutschen Truppen scheint sich unter den reichsdeutschen Siedlern Wolhyniens und Russisch-Polens eine gewisse Mobilität in Richtung Westen bemerkbar gemacht zu haben. Es zeigte sich, wenn auch in einem zahlenmäßig geringen Ausmaß, daß die Besorgnisse der russischen Nationalisten nicht unbegründet waren; Personen, die ihren Wehrdienst im Deutschen Reich absolviert hatten, bemühten sich jetzt um Rückkehr nach Deutschland. Und selbst Siedler, die sich bisher in der Frage der Staatsbürgerschaft nicht eindeutig entschieden hatten, strebten jetzt offenbar verstärkt nach Erhalt der deutschen Untertanenschaft.
Aus: Ingeborg Fleischhauer "Die Deutschen im Zarenreich", Seite 470</span>
Re: einwanderung nach deutschland aus wolhynien
Redmann Manfred, Donnerstag, 09.10.2003, 19:52 (vor 8101 Tagen) @ B. Meyer
Als Antwort auf: einwanderung nach deutschland aus wolhynien von B. Meyer am 03. September 2003 17:58:27:
Mein Großvater stammt nicht dierekt aus Wolinien sondern aus Wladislav
bei Scholm (heute Schelm)Mein Grßvater weigerte sich zur russischen
Armee zu gehen, darum wurde er "Verbannt" und über Kasachstan und
Orenburg (wo meine Tante geboren ist) bis fast an die Chinesische Grenze
geschickt. Danach wieder zurück über Finnland nach Deutschland.
Um danach Deutscher zu sein, hat mein Opa zwei Goldrubel bezahlt.
Warscheinlich haben die deutschen Behörden von jedem das genommen,
was er hatte. Meine Oma (geb. Schmitke aus Somoste (heute Somostoi
bei Wladimir Wolinsky) hatte noch einen Goldrubel unter der Zunge
den wir heute noch haben.
Die Brüder meines Opas (3) dienten in der russischen Armee und durften
mit ihren Famielien bleiben. 1939 sind sie aber auch nach Deutschland
ausgewandert.
